
Südafrika. Eine Region am Südostzipfel Südafrikas lebt vom Tintenfischfang. Auf dem „Chokka-Trail“ kann man den Fischern zusehen – und nach Spuren der Ureinwohner fahnden.
Als sich das Blätterdach des dichten Waldes lichtet, türmen sich riesige Sandberge zu einem endlosen Dünenmeer. Zielsicher findet Esti Stewart den Pfad und beginnt mit dem Anstieg in das Sandmeer. Bis über die Knöchel versinken ihre Füße im feinen, weichen Sand.
Die 52 Jahre alte Südafrikanerin kennt den Chokka-Trail wie keine Zweite. Schließlich hat sie den 62 Kilometer langen Wanderweg zwischen Oyster Bay, St. Francis Bay und dem Cape St. Francis am südafrikanischen Ostkap 2013 aus der Taufe gehoben. „Das ist der Oyster Bay Dune Bypass, ein Wanderdünensystem, das ständig in Bewegung ist und sich permanent verändert“, erklärt Esti, die zusammen mit ihrem Mann Eric Wanderer auf dem Chokka-Trail begleitet.
Die Strecke ist in vier Tagen mit drei Übernachtungen gut zu schaffen. Dabei wechselt alle paar Kilometer die Landschaft: Dünen, dichter Buschwald, schroffe Felsküsten mit karger Vegetation und tosender Bandung sowie scheinbar endlose Sandstrände wechseln sich ab und garantieren atemberaubende Ausblicke.
„Vier Kilometer sind es von hier bis zum Meer“, sagt Esti, als sie auf dem Kamm der ersten Düne angekommen ist. Doch von hier oben ist der Indische Ozean noch nicht zu sehen. Bis zum Horizont türmen sich die Sandmassen. Auf der anderen Seite reicht der dichte, tiefgrüne Wald fast über die gesamte Tiefebene. Die Sonne brennt, während der Wind feinste Sandkörner über die weiten Flächen peitscht.
Benannt ist der Wanderweg nach dem Tier, von dem die Region rund um St. Francis lebt: Tintenfische oder genauer gesagt Kalmare, die von den Einheimischen Chokka genannt werden. Die wirbellosen Tiere finden in dem nährstoffreichen und kühlen Wasser ideale Bedingungen. „1985 hat der Chokka-Fang in dieser Region richtig Fahrt aufgenommen“, erklärt Eric, der anfangs selber sein Glück als Fischer versucht hat. Mit einem kleinen Boot und fünf bis sechs Mann Besatzung ist er rausgefahren, um das „weiße Gold des Meeres“, wie die Menschen den Chokka hier auch nennen, zu fischen. Zielsicher lotst Esti die Gruppe durch das Dünenmeer. Manchmal bleibt sie stehen, um Tierspuren im Sand zu lesen oder Steine genauer unter die Lupe zu nehmen. „Immer wieder geben die Dünen bis zu 2000 Jahre alte Lagerplätze der Buschmänner frei“, sagt Esti. Ein paar Dünen weiter hat sie einen dieser Lagerplätze gefunden. Die 52-Jährige bückt sich und hebt behutsam ein paar Steinsplitter und Muschelschalen auf.
Steinerne Zeugen
Der Sand ist in einem Umkreis von mehreren Metern übersät mit zu spitzen Keilen behauenen Steinen, Muschelresten, versteinerten Ästen und zerbrochenen Häusern von Zebraschnecken. „Mit diesen Steinspitzen haben die Buschleute das Fleisch aus den Muscheln geschabt“, erklärt Esti. Tatsächlich sind in den Innenseiten der Muscheln deutliche Kratzspuren zu erkennen. „Manchmal finden wir an den Lagerstellen sogar noch die Reste von Tongefäßen“, sagt Esti.
Hinter der letzten Düne erstreckt sich wieder eine Tiefebene, an deren Ende das helle Blau des Indischen Ozeans zu sehen ist. Mit jedem Meter Richtung Ozean wird die Vegetation jetzt kleiner, spärlicher und knorriger. Dafür nimmt der Wind beständig zu. Direkt an der Küste trotzen nur noch kleine Sträucher und Sukkulenten den Naturgewalten. Die Wellen brechen sich tosend an den schroffen Felsen, die Luft schmeckt nach Salz. „Die Menschen, die hier leben, nennen diesen Küstenabschnitt auch The Wild Side“, sagt Esti. Dann fährt sie mit ihrer Hand die Küstenlinie nach und zeigt auf einen Punkt am Horizont. „Das ist der Leuchturm von Cape St. Francis. Da müssen wir heute noch hin.“

Der 27 Meter hohe, 1876 erbaute Leuchtturm steht genau auf der Spitze des südöstlichen Zipfels Afrikas, ist momentan aber nicht mehr als ein Punkt am Horizont. „Direkt daneben steht das Sanccob Rehabilitations-Zentrum für Pinguine und andere Seevögel“, sagt Esti. Den Leuchtturm fest im Blick, geht es jetzt immer an der Küste entlang. Lange Sandstrände und schroffe Felsformationen wechseln sich ab. Dazwischen stehen immer wieder Informationstafeln, die über die Flora und Fauna rechts und links des Weges aufklären, die Meeresbewohner jenseits der Brandung vorstellen und über den Chokka-Fang berichten.
Eric hat ein paar Kilometer vor der Küste einen Pulk Chokka-Fangboote ausgemacht. Die kleinen Kähne schaukeln wie Korken auf dem Wasser. „Die Chokkas werden mit dem Echolot gesucht und dann mit Handleinen in Meerestiefen von 15 bis 30 Metern gefangen. Netze sind zum Schutz der anderen Meerestiere seit 20 Jahren nicht mehr erlaubt“, erklärt Eric. Geködert werden die Kalmare unter anderem mit Sardellen oder Muschelfleisch. Die größeren Boote der Fangflotten können bis zu drei Wochen auf See bleiben. Die gefangenen Chokkas werden sofort und unausgenommen bei Temperaturen von minus 30 Grad eingefroren.
Obwohl sich das Hauptfanggebiet an der südafrikanischen Ostküste auf rund 300 Kilometer erstreckt, hat Chokka keinen großen Stellenwert auf den Tellern der Südafrikaner. „Vielen hier ist er zu gummiartig. Aber seine Beliebtheit im Land nimmt langsam zu“, erklärt Eric.
90 Prozent der Fänge werden daher nach Europa exportiert – vor allem nach Spanien, Portugal und Griechenland, wo sie als beliebter Speisefisch auf den Tellern landen. „Zum Glück sehen unsere Chokkas genauso aus wie die aus dem Mittelmeer“, sagt Eric und schmunzelt. „Aber unser Chokka schmeckt natürlich viel besser“, sagt er und verspricht eine Kostprobe im Hafen von St. Francis Bay. Dort haben rund 50 Chokka-Fang-Boote ihre Basis. Viel frischer kann man Calamaris-Ringe also kaum bekommen.
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg, denn der Hafen von St. Francis liegt noch ein Stück hinter dem Leuchtturm – und der ist während Erics Erzählungen nicht wesentlich größer geworden.

Veröffentlicht in „Südwest Presse“ und „360° Afrika“