
Mali. Als die Bilder von den verkohlten Schriftstücken im Ahmed-Baba-Institut um die Welt gingen, schienen die schlimmsten Befürchtungen wahr geworden zu sein. Islamisten hatten bei ihrer Flucht vor den französischen Truppen die Jahrhunderte alten Manuskripte von Timbuktu vernichtet. Doch zu diesem Zeitpunkt war der überwiegende Teil von Westafrikas bedeutendstem Kulturschatz schon längst nicht mehr in der Stadt.
Mutige Männer und Frauen hatten in den Wochen zuvor tausende Manuskripte unter Einsatz ihres Lebens in Sicherheit gebracht. Wie, das zeichnet Charlie English in seinem Buch „Die Bücherschmuggler von Timbuktu“ nach. Dank unzähliger Interviews, die der ehemalige Reporter der britischen Tageszeitung „The Guardian“ geführt hat und den von ihm akribisch recherchierten Fakten, liest sich sein Buch spannend wie ein Krimi.
Dieser Krimi beginnt im April 2012. Die für einen unabhängigen Tuareg-Staat im Norden Malis kämpfenden Rebellen nutzen das Machtvakuum nach einem Militärputsch und stoßen zusammen mit den Islamisten von Ansar Dine ins Zentrum des Landes vor. Die Städte Kidal, Gao und Timbuktu werden kampflos besetzt, während die malische Armee fluchtartig das Weite sucht. Wieder aufgebrochen war der seit mehr als 50 Jahren schwelende Konflikt nach dem Sturz Muammar al-Gadaffis. Tausende Tuareg, die als Söldner in Diensten des libyschen Diktators gestanden hatten, kehrten damals in ihre Heimat zurück. Im Gepäck hatten die kampferprobten Männer jede Menge Waffen.
Als Ansar Dine die Tuareg-Kämpfer kurz nach dem Einmarsch aus Timbuktu vertreibt, atmen viele Einwohner zunächst auf, denn die Islamisten beenden die Plünderungen und stellen die Grundversorgung der Stadt mit Strom und Wasser sicher. Doch sie führen auch die Scharia ein. Alkohol, Fußballspiele, Musik und Tanz werden verboten, Frauen müssen sich verschleiern. Spätestens als die Islamisten beginnen die zum UNESCO-Welterbe gehörenden Mausoleen der Sufi-Mystiker zu zerstören, wird den Bibliothekaren von Timbuktu klar, dass auch ihre Manuskriptsammlungen in Gefahr sind.
Die Manuskripte liegen im staatlichen Ahmed-Baba-Institut und in vielen privaten Bibliotheken. Sie sind der Beweis für eine Jahrhunderte alte Schrifttradition in Afrika. Diese hatten viele Forscher dem Kontinent lange abgesprochen. Die ebenfalls zum UNESCO-Welterbe gehörenden Schriften – zumeist in arabischer Sprache verfasst – handeln von Astronomie, Poesie, Medizin und Geschichte. Daneben gibt es religiöse Texte mit Kommentaren und Auslegungen der heiligen Schriften des Islam, Gerichtsurteile und Kaufverträge. Manche Manuskripte umfassen nur eine Seite, andere sind Zentimeter dick und in Leder gebunden. Sie, und nicht das von den Europäern erhoffte Gold, sind der wahre Schatz Timbuktus.
Spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Legende von Timbuktu als unermesslich reiche Stadt mit goldenen Dächern einen festen Platz in der Vorstellungswelt Europas. Deshalb beschäftigt sich Charlie English in einem zweiten Erzählstrang auch mit der Entdeckungsgeschichte der Stadt. Vor rund 200 Jahren lieferten sich Engländer und Franzosen einen regelrechten Wettkampf um Timbuktu. Im August 1826 erreichte der Engländer Alexander Gordon Laing als erster Europäer die Stadt. Danach verliert sich seine Spur im Wüstensand. Zwei Jahre später schafft es der Franzose René Caillié bis nach Timbuktu und als erster auch wieder heil zurück nach Europa.
Die Handelsmetropole liegt abgelegen am oberen Ende des Niger-Deltas und ist der Kreuzungspunkt des Flusshandels mit den Karawanenstraßen. Rund 1100 Kilometer trennen Timbuktu von der Hauptstadt Bamako. Versorgt wird die Stadt per Boot über den Fluss oder über staubige Pisten durch die Wüste.
Und genau diese Pisten sind die einzige Möglichkeit, um die wertvollen Manuskripte vor den Islamisten in Sicherheit zu bringen. Abdel Kader Haidara, Bibliothekar der größten Privatsammlung Timbuktus, ergreift die Initiative und schmiedet von Bamako aus einen Plan zur Rettung der uralten Zeugnisse islamischer Gelehrsamkeit. Von dem eigentlich für ein Englisch-Stipendium vorgesehenen Geld kauft er stabile Seekisten aus Stahl. Während Helfer im Schutz der Nacht Manuskripte in Seekisten verpacken, testen Kuriere verschiedene Routen. Sie haben zuerst nur einzelne Schriftstücke im Gepäck und kundschaften die Checkpoints von Islamisten und malischen Regierungstruppen aus. Mit Hilfe unzähliger Prepaid-Handys koordiniert Haidara die Rettungsaktion. In der Hochphase des Schmuggels machen sich fast täglich Kuriere mit Seekisten voller Manuskripte in überfüllten Überlandbussen oder hoffnungslos überladenen Pickups auf den Weg. Versteckt wird die wertvolle Fracht unter Säcken voller Hirse, Türmen von Limonade-Kästen oder Bergen von Obst und Gemüse. In Bamako nimmt der Bibliothekar die Kisten in Empfang und versteckt sie bei aus Timbuktu geflüchteten Familien. Genau 377.491 Manuskripte, sicher verstaut in 922 Seekisten, sollen die Stadt so verlassen haben. Nur etwas mehr als 4000 Manuskripte sollen dem islamistischen Terror zum Opfer gefallen sein. Die Bilder von ihren verkohlten Resten gingen um die Welt.
Neben der ständigen Angst vor dem Auffliegen der Aktion, kämpft Haidara auch permanent mit Geldsorgen. Der Bibliothekar muss immer neue Mittel auftreiben, um Seekisten, Handys, Bestechungs- und Schweigegelder zu bezahlen. Auf rund eine Million Euro sollen sich die Gesamtkosten für die Rettungsaktion der Manuskripte am Ende belaufen. Unterstützung kommt von verschiedenen ausländischen Helfern, der niederländischen Prinz-Claus-Stiftung und auch von der deutschen Botschaft in Mali.
Doch waren es wirklich 377.491 Manuskripte? Und sind die Kosten mit einer Million Euro nicht viel zu hoch gegriffen? Charlie English zweifelt Haidaras Darstellung und seine Buchführung an. Am Ende aber weichen die Zweifel dem Respekt vor all den Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens geholfen haben, einen der wichtigsten Kulturschätze Afrikas zu retten. Im Herbst 2014 wird Abdel Kader Haidara dafür mit dem Afrika-Preis der Deutschen Afrika Stiftung ausgezeichnet.
Charlie English, Die Bücherschmuggler von Timbuktu, Hoffman und Campe, 24 Euro. ISBN: 978-3-455-50372-2
Veröffentlicht in 360° Afrika, 1/2019