
Urbanisierung. Afrikas Stadtbevölkerung ist die am schnellsten wachsende weltweit. 2035 wird die Hälfte aller Afrikaner – rund 900 Millionen Menschen – nach Schätzungen der Vereinten Nationen in Städten leben. Diese Entwicklung bringt große Herausforderungen, aber auch Chancen mit sich.
Analysten der Vereinten Nationen (UN) prognostizieren, dass in den heutigen Mega-Citys Lagos, Kairo und Kinshasa im Jahr 2035 jeweils weit mehr als 20 Millionen Menschen zu Hause sein werden, während Luanda, Daressalam und Johannesburg mit jeweils über zehn Millionen Einwohnern in die Riege der Mega-Citys aufsteigen werden. Mega-Citys sind politische und ökonomische Zentren, die nach UN-Definition mindestens zehn Millionen Einwohner haben. Die Riesenstädte in Entwicklungsländern zeichnen sich dadurch aus, dass die Bereitstellung von Infrastruktur mit dem Bevölkerungszuwachs nicht mithalten kann und ein großer Teil der Einwohner in Slums lebt. 2030 werden sechs von weltweit 41 Mega-Citys in Afrika liegen.
Schwerpunkt des Urbanisierungsprozesses ist die Region südlich der Sahara. Allein die nigerianische Küstenstadt Lagos wächst nach Aussage der UN schneller als jede andere Stadt der Welt jährlich um bis zu 730.000 Einwohner. Die Ursachen für das rasante Wachstum sind vielschichtig. Der Hauptgrund ist nach Annahme des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) der hohe Geburtenüberschuss. Ein weiterer Faktor ist die Migration aus ländlichen Regionen in die Städte. Auslöser dafür sind ökonomische Perspektivlosigkeit, durch den Klimawandel immer schwieriger werdende landwirtschaftliche Bedingungen sowie die zunehmenden Zahl von Naturkatastrophen. Darüber hinaus beschleunigen kriegerische Auseinandersetzungen Landflucht und Verstädterung. So sind allein im Norden Nigerias seit dem Auftreten der islamistischen Terrormiliz Boko Haram im Jahr 2009 schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Binnenmigration hat dazu geführt, dass sich die Bevölkerungszahl von Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaates Borno im Nordosten Nigerias, in kürzester Zeit auf mehr als zwei Millionen Einwohner verdoppelt hat.
Das schnelle Wachsen der Megastädte stellt die Stadtverwaltungen vor große Herausforderungen, denn die zumeist junge Bevölkerung muss mit Wohnungen, Strom, sauberem Trinkwasser, Bildung und Arbeitsplätzen versorgt werden. Zudem ist die Infrastruktur den Menschenmassen nicht mehr gewachsen, was auf den Straßen der Mega-Citys zum Verkehrskollaps führt. Deshalb sind in Lagos bis zu sechs Stunden Stau auf dem Arbeitsweg für Millionen Pendler keine Seltenheit.
Nicht viel anders sieht es in Johannesburg aus. Dort haben sich die Verkehrs- und Stadtplaner mit der Schaffung eines effizienten öffentlichen Nahverkehrssystems selber eine „Jahrhundertaufgabe“ gestellt. Die Verkehrsprobleme der südafrikanischen Metropole sind ein Erbe der Apartheid, denn für die Mehrzahl der Bevölkerung liegen Wohn- und Arbeitsstätte kilometerweit auseinander. Stundenlange Fahrten von den Townships am Stadtrand zu Arbeitsplätzen in die Innenstadt, die vor dem Regimewechsel nur Weißen als Wohnorte vorbehalten waren, gehören zum Alltag. Wie in den meisten anderen afrikanischen Großstädten ist das Fundament des öffentlichen Nahverkehrs in der 1886 nach dem Fund großer Goldvorkommen gegründeten Stadt eine privat organisierte Minibus-Flotte. Dieser informelle „öffentliche“ Personennahverkehr läuft zwar einigermaßen, lässt sich aber nur schwer koordinieren und in ein zuverlässig funktionierendes Streckennetz integrieren. Zudem stellen die oft hoffnungslos überladenen und schlecht bis gar nicht gewarteten Minibusse ein eklatantes Sicherheitsrisiko dar.
In Johannesburg soll das „Rea Vaya Bus Rapid Transit System“ – Afrikas erstes städtisches Schnellbussystem – die attraktive Alternative zum Minibus werden. Die erste Projektphase wurde bis 2013 erfolgreich realisiert und verbindet seitdem das Township Soweto mit dem östlichen Central Business District. Aktuell wird die zweite Bauphase in den nordöstlichen Stadtbezirken umgesetzt. Darüber hinaus versuchen die Stadtplaner den Menschen auch das Fahrrad als Alternative zum Auto schmackhaft zu machen. 2013 wurde in Soweto die erste Fahrradspur in der Post-Apartheid-Ära in Betrieb genommen. Und bereits seit 2012 sind Johannesburgs Radfahrer in der „Juca“ – Johannesburg Urban Cyclists Association – organisiert.
In Lagos, dem ökonomischen Nervenzentrum Westafrikas, haben die Menschen für den Verkehrskollaps sogar eine eigene Beizeichnung: „Go slow“ heißt der alltägliche Wahnsinn auf den Straßen der Millionenmetropole. Die Infrastruktur der Stadt ist „nur“ für acht Millionen Menschen ausgelegt. Rund ein Drittel der Wirtschaftsleistung Nigerias, der größten Volkswirtschaft Afrikas, werden in der 1472 von portugiesischen Seeleuten gegründeten Stadt am Atlantik generiert. Ein nigerianisches Sprichwort sagt, Lagos sei so groß, dass Himmel und Hölle darin gleichzeitig Platz hätten. Und tatsächlich ist Armut laut einer UN-Statistik in nur wenigen Städten weltweit noch ungleicher verteilt. Schätzungsweise 70 Prozent der Einwohner leben unter erbärmlichen Bedingungen in informellen Siedlungen an den sumpfigen Rändern der ehemaligen Drehscheibe des transatlantischen Sklavenhandels.
Aktuell entsteht vor Victoria Island, dem heutigen Geschäftszentrum der Stadt, auf einer aufgeschütteten Insel ein neues Nobelstadtviertel mit Finanzzentrum, Shopping Malls, Jachthäfen, eigenem Kraftwerk und Wohnungen für bis zu 250.000 Menschen. „Eko Atlantic City“ heißt das 2008 gestartete Mega-Bauprojekt, das seinesgleichen in Afrika sucht. Kritiker befürchten, dass Lagos nach der Fertigstellung des „Mini Manhattan“ zu einer geteilten Stadt wird. Vor der Küste das streng abgeschottete Viertel für die Reichen, gegenüber der chaotische Moloch für die Masse. Doch trotz der heute auch schon extremen Gegensätze zwischen Arm und Reich ist Lagos eine durch und durch optimistische Stadt – auch abseits der glitzernden Geschäftsviertel und schicken Restaurants. „Lagos ist eigentlich schon lange ein hoffnungsloser Fall – hätten die Leute nicht so viel Hoffnung“, hat der nigerianisch-amerikanische Autor Teju Cole über Lagos geschrieben.
Vielleicht ist es gerade diese positive Grundeinstellung der Einwohner, die Mega-Citys überall auf der Welt doch irgendwie funktionieren lässt. Wissenschaftler jedenfalls sehen in Riesenstädten wie Lagos, Kairo oder Kinshasa auch Chancen. So lässt sich in Städten der Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung viel leichter umsetzen als in abgelegenen ländlichen Gebieten. Außerdem bietet die Urbanisierung auch eine Chance zur nachhaltigen Entwicklung Afrikas, denn Städte sind Innovationstreiber – egal ob in Europa, Asien oder Afrika. Dies ist in Yaba, dem Universitätsquartier von Lagos, zu beobachten. Das Stadtviertel hat sich zu einem Schmelztiegel aus Innovationen, Kreativität und Unternehmergeist entwickelt. Unzählige Gemeinschaftsbüros und IT-Startups haben sich in diesem Teil der Megacity angesiedelt. Deswegen trägt Yaba auch den Spitznamen „Silicon Valley Nigerias“.
Veröffentlicht in 360 Grad Afrika, Mai 2018