Uganda. Loy Habingo hält eine Mappe in ihren Händen. Fast zärtlich streicht sie über die Seiten. Zwischen den schlichten Pappdeckeln hat sie ihr Leben aufgeschrieben. Persönliche Erinnerungen, die bestimmt sind für ihre Kinder, denn die 40-Jährige weiß, dass sie bald sterben wird. 1996 wurde die Frau aus Kampalas Stadtteil Kasubi HIV-positiv getestet, seit fünf Jahren bekommt sie Medikamente. Langsam verschlechtert sich ihr Zustand. „Meine Kinder sollen ihre Geschichte kennen, wenn ich tot bin“, sagt Loy. Deswegen möchte sie ihnen ein „Memory Book“, ein sogenanntes Gedächtnis-Buch hinterlassen. Vorsichtig klappt sie den Ordner auf. Alles, was ihr wichtig ist, alles was ihre Kinder über Eltern und Familie später einmal wissen sollen, hat sie auf diesen Seiten niedergeschrieben.
Finanziert und unterstützt beim Schreiben werden Frauen wie Loy von Global Care. Das deutsche Kinderhilfswerk ist seit vielen Jahren in Kampalas Armenviertel präsent, um alleinerziehende Mütter mit Aids zu unterstützen. Neben der Hilfe beim Verfassen von „Memory Books“ verteilt die Organisation auch Medikamente und bietet den Frauen bei der Produktion von Schmuck eine Verdienstmöglichkeit. Auch Loy arbeitet hier und fertigt aus Kugeln, die sie vorher aus Zeitungspapier formt, bunte Ketten und Armbänder.
In Uganda liegt die offizielle Quote der infizierten Menschen bei sechs Prozent, die Dunkelziffer aber dürfte weitaus höher sein. Schätzungsweise zwei Millionen Aids- Waisen gibt es in dem ostafrikanischen Land. Viele wissen nur wenig über sich und ihre Familien, denn mit den Eltern stirbt oft auch ihre Identität.
Loy ist froh, ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben zu haben. Für jedes ihrer fünf Kinder – der jüngste Sohn ist gerade sechs Jahre alt – hat sie ein ganz persönliches „Memory Book“ angefertigt. „Jetzt kann ich ihnen etwas Wertvolles hinterlassen“, sagt Loy. Liebevoll hat sie die Geschichten mit Zeichnungen und Fotos illustriert. Eines zeigt eine lachende Loy zusammen mit ihrer Schwester. „Als wir noch Kinder waren, haben wir uns immer auf unser Glas Trockenmilch gefreut“, erzählt sie. Auch diese Kindheitserinnerung hat sie aufgeschrieben. Daneben hat sie ihre Hobbys und das Rezept ihres Lieblingsessens notiert. Außerdem finden die Kinder im Buch ihrer Mutter auch Informationen zu Verwandten sowie einige Ratschläge und Tipps, die Loy ihnen mit auf den Lebensweg geben möchte.
Jedes „Memory Book“ hat auch ein Kapitel, in dem es speziell um die Entwicklung der Kinder geht. Für ihre älteste Tochter hat Loy die fröhliche Suche nach einem neuen Festtagskleid festgehalten. „Du hast Dich so gefreut, als Du das Kleid zum ersten Mal anziehen durftest“, liest Loy laut vor. Die vom HI-Virus gezeichnete Frau klappt das Buch zu, lächelt gedankenverloren und gibt es dem Mitarbeiter von Global Care zurück.
Im Büro der Hilfsorganisation werden alle Bücher hinterlegt, bis die Kinder erwachsen sind. Dann bekommt auch Loys jüngster Sohn das Vermächtnis seiner Mutter ausgehändigt, um so mehr über sich und seine Wurzeln zu erfahren. Loy Habingo wird dann schon lange tot sein.
Veröffentlicht im „Mannheimer Morgen“, 1. Dezember 2009
