Ghana. Die Krokodile im See von Paga sind heilige Tiere. Seit Jahrhunderten weisen sie den Menschen den Weg zu den Wasserstellen. Wohlgenährt liegen die trägen Kolosse am Ufer des Sees. Angelockt durch das Gegacker eines Huhns, bewegt sich ein Krokodil majestätisch auf die Menschenansammlung am Ufer zu. Ein paar Minuten später ist das Schauspiel vorbei: Das Krokodil hat das lebendige Huhn mit einem Bissen verschlungen. Ein Fetisch-Priester hat dabei beschwörend auf das Tier eingeredet. Jetzt ist es wieder still, ein paar Federn im Uferschlamm sind die letzten Zeugen der Zeremonie. Zufrieden geht der katholische Pfarrer David zum Geländewagen. Zusammen mit dem Stammeshäuptling von Bongo, einem Dorf in Nordghana unweit der Grenze zu Burkina Faso, hat der Geistliche das Huhn den heiligen Krokodilen geopfert.
Solche Szenen sind in dem westafrikanischen Land normal. Ghana, das am 6. März 1957 als erstes Land des Kontinents unabhängig wurde, ist ein Schmelztiegel der Kulturen und Religionen. Die ehemalige britische Kronkolonie Goldküste ist ein Vielvölkerstaat, der sich beinahe aus ebenso vielen Sprachgruppen wie Ethnien zusammensetzt. Christen, Moslems und Anhänger von Naturreligionen leben hier anders als in den Nachbarstaaten friedlich zusammen. Auch für Pfarrer David ist derregelmäßige Besuch beim Fetischpriester normal. Man schätzt sich und vertraut einander. Im Pfarrhaus des Dorfes erzählt er von den Affenbrotbäumen, die Essen aus den Töpfen der Dorfbewohner stehlen – wenn es denn nicht scharf genug gewürzt ist – und von regelmäßigen Kontakten zu seinen Ahnen, die in den mächtigen Bäumen leben.
Am 6. März 1957 ist Ghana als erstes unabhängiges Land Afrikas in eine hoffnungsvolle Zukunft gestartet. Die Staatsgründung war unblutig, und Präsident Kwame Nkrumah übernahm von den britischen Kolonialherren ein Land mit funktionierender Infrastruktur und gut gefüllter Staatskasse. Hochfliegende Pläne sollten Ghana im Rekordtempo zum Industrieland machen. Investiert wurde in Schnellstraßen, Fabriken, und den größten Stausee der Welt (Voltasee) – aber auch in aberwitzige und gigantische Amts- und Repräsentationsgebäude. Im monströsen Unabhängigkeitsbogen in Accra ist der Geist der Gründerjahre – der sich nicht wesentlich vom Totalitarismus der ehemaligen Kolonialherren unterschied – Stein geworden.
Mit einer Mischung aus panafrikanischen Fantasien und sozialistischer Wirtschaft wollte Nkrumah die Wende schaffen und scheiterte an seinem ideologischen Starrsinn, Großmannssucht und politischen Fehlern. Aus den 1,2 Milliarden Euro Guthaben von 1957 waren neun Jahre später rund eine Milliarde Euro Schulden geworden. Nkrumah hatte sich in dieser Zeit zum „Osagyefo“, zum „Heiland“, ernannt. Im Februar 1966 wurde Nkrumah vom Militär aus dem Amt gejagt. 1972 starb er im Rumänien des Diktators Ceausescu.
Was folgte, war eine Zeit, wie sie für junge afrikanische Staaten symptomatisch ist. Die Putschisten hielten sich nie lange an der Macht, wurden schnell von neuen Militärs ersetzt. Milliardenkredite des Westens fütterten ein System aus Schwarzarbeit, Schmuggel, Korruption und Devisenschwindel – in Ghana kurz „Kalabule“ genannt. Erst unter dem Regime des Luftwaffenoffiziers Jerry Rawlings, der sich 1981 zum zweiten Mal an die Macht putschte, erholte sich das Land wieder. Rawlings verpasste dem ehemaligen Musterknaben Afrikas zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ein hartes Sanierungsprogramm. Die Ironie dabei ist, dass eine demokratische Regierung wohl kaum zur Durchführung der IWF-Politik im Stande gewesen wäre, da die unter den drastischen Reformen leidende Bevölkerung die Regierung sofort wieder abgewählt hätte. 1992 gab der Diktator dem Land dann eine demokratische Verfassung, die freie Wahlen, Gewaltenteilung und die Pressefreiheit garantiert. Bis 1996 herrschte Rawlings als gewählter Präsident, dann machte er Platz für einen Nachfolger.
Mit der Demokratie kam auch der Aufschwung. In Bongo, nur ein paar Kilometer von den heiligen Krokodilen entfernt, zum Beispiel in Gestalt von Strommasten, die die Bautrupps aus der 800 Kilometer entfernten Hauptstadt neben der Piste in die Erde rammten. „Das ist das Wahlgeschenk des Präsidenten“, hatte Pfarrer David 1996 zynisch erklärt und prognostiziert, das es die Elektrizität dazu wohl frühestens zum nächsten Wahlkampf geben werde.
Heute gilt Ghana wieder als Musterknabe. Bürogebäude und Hotels mit Glasfassaden wachsen in Accra, der Hauptstadt, in den Himmel. Und beim Weltbankreport 2006 landete Ghana im Vergleich von 112 Ländern unter den besten zehn Reformstaaten. Auch die Stimmung im Volk wird besser. Spätestens nachdem die National- Kicker bei der Fußball-WM 2006 in Deutschland erst im Achtelfinale an Brasilien scheiterten, sind die Menschen wieder stolz auf ihr Land. Der schwarze Stern Afrikas, in der Nationalflagge Symbol für Freiheit und Aufschwung, glänzt wieder. Selbstbewusst verkündete Staatspräsident John Kufuor daher Bundespräsident Horst Köhler bei dessen letztem Besuch, dass man heute viele Alternativen habe. Gemeint war dies als Hinweis auf das Engagement Chinas in afrikanischen Schwellenländern wie Ghana. Die Chinesen interessieren vor allem die Rohstoffe des schwarzen Kontinents. Auch damit ist Ghana gesegnet. Wegen des Goldes kamen im 19. Jahrhundert die Briten ins Land. Noch heute beträgt der Goldexport 32 Prozent an den Gesamtausfuhren. Doch im Boden schlummern auch Diamanten, Öl, Bauxit und Mangan. Trotzdem ist Ghana bis heute ein Agrarland – rund 60 Prozent der Menschen sind in der Landwirtschaft tätig.
Aber gerade in diesem Sektor macht sich der Aufschwung nur schleppend bemerkbar. Wie seit Jahrhunderten bestellen die Bauern im Norden des Landes ihre Äcker mit einer kurzstieligen Hacke. Tief gebückt graben sich dabei vor allem Frauen durch Erdnuss- und Hirse-Felder. Aber es gibt auch Fortschritte. So sieht man, seitdem die Regierung die Schulpflicht konsequent durchsetzt, immer weniger Kinder auf den Feldern. Fehlt ein Schüler drei Monate im Unterricht, fragt die Polizei bei den Eltern nach. Und Familien, die ihre Töchter regelmäßig zur Schule schicken, bekommen sogar einen Sack Hirse und eine Flasche Öl. In Bongo, dem Dorf von Pfarrer David, hat sich noch etwas getan: Seit den Wahlen im Jahr 2000 ragen die Strommasten nicht mehr nutzlos in den Himmel. Drähte zweigen zu den Häusern aus Lehm, Stroh und Wellblech ab. Der Strom ist auch bei den Bauern in Nordghana angekommen.
Veröffentlicht im „Mannheimer Morgen“, 6. März 2007